Diejenigen,
die Akten [frz. fiche, engl. file] über andere anlegen,
werden nicht durchkommen.
Der
folgende Text basiert auf der französischen Version vom Oktober
1999. Wir haben sie mit der englischen Version "THE X-FILERS" vom Januar
2000 verglichen und diese in vielen Punkten übernommen, weil die
Argumentation verständlicher ist.
"(..)
Die IS darf nicht nach den vordergründig skandalösen Aspekten
bestimmter Formulierungen in ihren Veröffentlichungen beurteilt
werden, sondern nur nach ihrer zentralen und ihrem Wesen nach skandalösen
Wahrheit."
Situationistische
Internationale
"Zu
unserem Unglück hatten wir recht."
Amadeo
Bordiga
Gegenüber
dem Staatsanwalt Pinard berief sich Flaubert auf die grundsätzliche
Moral von Madame Bovary. In dieser Rolle wären wir wenig
glaubhaft.
"Man
kann wohl kaum unschuldig und Schriftsteller sein", sagte schon 1950
die Schriftsteller-Internationale zur Verteidigung eines der ihren,
der des Diebstahls angeklagt war. So unerträglich es ist, als Schuldiger
behandelt zu werden, so absurd ist es, seine Unschuld zu beschwören,
wenn man einen Artikel "Für eine Welt ohne Unschuldige" veröffentlicht
hat.
Armand
Robin, der Autor von La Fausse Parole [Das falsche Wort], verlangte
seine Aufnahme in alle schwarzen Listen.
Leugnen
heißt gestehen. Wer sich verteidigt, klagt sich an.
Fast
dreißig Jahre waren wir aktiv tätig und haben Ideen entwikelt.
Unsere Taten drückten aus, was wir waren.
Plötzlich
warf man uns vor, nicht das zu sein, was wir getan hätten. Die
uns besser Gesonnenen meinten, wir hätten unklugerweise dem Revisionismus
Vorschub geleistet. Andere, ob Phantasten oder Lügner, gingen weiter:
für sie sind wir schändliche Negationisten, Leugner des Holocaust,
und um es deutlich zu sagen: mehr oder weniger Faschisten. Müssen
wir erklären, daß wir nicht das sind, was man von
uns behauptet? Ein "negativer" Beweis ist ein Un-Sinn.
Wir
können nichts tun für die Irregeleiteten, die sich nie für
die Tausende von Seiten interessiert haben, die wir geschrieben oder
veröffentlicht haben und jetzt ihr Urteil darüber fällen
im kümmerlichen Licht von fünfzig Zeilen, die fürsorglich
für sie ausgesucht wurden.
Wir
haben auch nichts mehr zu diskutieren mit Spürhunden und Gelegenheitsforschern,
die an der "Ultra-Linken" nur interessiert, ob sie etwas mit der Ultra-Rechten
zu tun hat. Was würde man zu einer Geschichtsschreibung der deutschen
kommunistischen Linken sagen, in deren Mittelpunkt jene ihrer Mitglieder
gerückt wären - und es waren nicht die schlechtesten -, die
zum Nationalbolschewismus übergetreten sind? Ähnlichen Wert
haben Arbeiten, die etwa Nerval [frz. Dichter] unter psychiatrischem
Blickwinkel beurteilen, Marx über sein Verhältnis mit seinem
Hausmädchen neu interpretieren oder den Anarchismus allein von
den in die libertären Reihen infiltrierten Provokateuren ausgehend
untersuchen.
Was
diejenigen anbelangt, die mit unseren Schriften und Aktivitäten
vertraut sind, weil sie häufig mit uns verkehrten - manche gewiß
zwanzig oder dreißig Jahre lang - und plötzlich außer
sich sind über einige herausgesuchte Zitate, so disqualifiziert
sie eine derartige Haltung auf allen Ebenen und besonders auf der intellektuellen.
Die
Verleumdung war, soweit sie es sein konnte, ein Erfolg: Also in den
Medien, als Skandal. Aber genauso schnell, wie der Denunziant freudig
begrüßt wird, wechselt das Spektakel das Thema. Eines Tages
wird jeder mal eine Viertelstunde berühmt. Vorhang.
Der
lächerliche Charakter der Kampagne gegen die Ultra-Linke und ihr
magerer Realitätsgehalt zeigt sich darin, wie wir die Rolle des
Bösewichts im Krimi zugewiesen bekamen. Aus der Verleumdung wird
Fiction - ein Zeichen dafür, daß sie in die Schlußphase
eintritt.
Einen
Skandal kann man nicht widerlegen. Presse und Verlage machen nicht die
Meinung, sie spiegeln sie wider, sprechen von dem, wozu der Leser schon
ein Verhältnis hat, was schon gefiltert ist.
Wenn
die Medien ein unbekanntes Thema aufgreifen (im vorliegenden Fall La
Banquise), mag der Leser davon beeinflußt werden. Wenn es
aber keinerlei Bezug zu seinem Leben hat, wie tief geht dann dieser
Einfluß? La Banquise hat dann dieselbe Bedeutung wie ein
Zugunglück in China: wie hundertfünfzig toten Chinesen räumt
man ihr ein paar Spalten ein und für dreißig Sekunden Aufmerksamkeit.
Der
französische Leser, der an einem Abend des Jahres 1984 nach dem
Mord an G. Lebovici seine Zeitung aufschlägt und überhaupt
nichts von der IS weiß, erfährt, daß ein gewisser Guy
Debord angeblich Verbindungen zum internationalen Terrorismus habe.
Bevor er das in der nächsten Minute wieder vergißt, schließt
er daraus das, was er schon vorher dachte: Mit der extremen Linken sollte
man so wenig wie möglich zu tun haben.
Eine
ganze Seite in Le Monde, die auf anständige Weise das kommunistische
Denken darstellt, wäre bar jeden Sinnes, sie wäre allenfalls
ein Symptom für etwas. Hat also eine Seite, die demselben Denken
feindselig gegenübersteht, in derselben Zeitung mehr Bedeutung?
Ein
Sympathisant der Kommunistischen Partei, der in den fünfziger Jahren
bei Mattick oder "Socialisme ou Barbarie" herumgeblättert hätte,
würde indigniert gesagt haben: "Wer sowas schreibt, kann nur von
den Amerikanern bezahlt sein!" Und der Käufer des "Parisien Libéré"
hätte stirnrunzelnd gesagt: "Ich verstehe zwar nicht viel davon,
aber zumindest geht es gegen die Russen!"
Unsere
Texte von 1970, 1979 oder 1983 können nur von ihren Lesern verstanden
werden und nicht von denjenigen, die sie heute durchgehen auf
der Suche nach unserem "Revisionismus" - und schon gar nicht von denen,
die sich für oder gegen das Schwarzbuch des Kommunismus
begeistern und für die die Geschichte Kriminologie ist und Politik
Denunziation.
Man
kann sich nur in den Augen derer in Verruf bringen, für die und
mit denen man lebt. Die öffentliche Meinung betrachtet die Individuen
oder Gruppen mit radikalen Absichten als Träumer, Verrückte
oder Unruhestifter. Für den durchschnittlichen Abonnenten von Le
Monde oder Le Figaro ist es genau so schwierig zu verstehen,
daß La Banquise nie mit dem Faschismus liebäugelte,
wie die historische Vision dieser Zeitschrift zu akzeptieren. Daß
es diesen Flirt nicht gab, ergibt sich aus der Gültigkeit der Vision.
Einen anderen "Beweis" gibt es nicht.
Weil
wir Revolutionäre sind, haben wir mit dem Faschismus so wenig zu
schaffen wie mit dem Stalinismus. Das Problem (dessen Lösung noch
einige Zeit in Anspruch nehmen wird) besteht darin, daß dieser
Satz für diejenigen nahezu sinnlos ist, für die das Wort "Revolution"
keinen Inhalt hat. Es wäre sinnlos, von Leuten, die für unsere
Gedanken generell nicht zugänglich sind, zu erwarten, daß
sie uns in einem speziellen Fall (wir haben den Gaskammer-Leugner Faurisson
nie unterstützt) verständen, besonders wenn die Denunziation
gegen uns dabei eine Kritik am Antifaschismus als Beweis für Kumpanei
mit dem Faschismus nimmt: Anti-Anti-Faschismus = profaschistisch! Klar
wie das Glas von Lenins Mausoleum.
Möglicherweise
hätte die in die Augen springende Logik eines so schönen Syllogismus
in anderen Bereichen bei den Linken die minimale kritische Reaktion
ausgelöst, die sie eigentlich von der Rechten und ihrem extremen
Flügel unterscheiden sollte. Aber diesmal war der Angriff gleichbedeutend
mit einer demokratischen Widerlegung der revolutionären Theorie
und zwar über die Konfrontation Negationismus/Antinegationismus,
die der Zeitgeist in Frankreich heute als Jahrhundertkonflikt darstellt.
Wir
sind schuldig. Nicht im Sinne der Anklage, aber es gibt Gründe,
warum man uns anklagt. Die Ankläger befassen sich mit unserem starken
Punkt, nicht mit unseren möglichen Schwächen, Vereinfachungen
oder Provokationen. Guter oder schlechter Geschmack stehen hier nicht
zur Debatte. "Genau besehen ist das Gespür für Provokationen
immer noch der am meisten begrüßenswerte Aspekt des ganzen.
Eine Wahrheit wird immer davon profitieren, wenn sie auf verletzende
Weise ausgedrückt wird." (Breton, Konferenz vom 17. November 1922)
Die Neigung einer Gesellschaft, von einer einzelnen Handlung oder isolierten
Äußerung geschockt zu sein, entspricht ihrer Toleranz gegenüber
ihren eigenen Unmenschlichkeit, die sie Jahr für Jahr in rosigen
Farben darstellt. "Wenn mein Theater stinkt, dann nur deshalb, weil
andere Stücke so gut riechen." (Genet, L'Étrange Mot d',
1967) Die Gesellschaftskritik hat noch kein Mittel gefunden, sich mit
Vorsicht auszudrücken.
Wir
sind schuldig, weil wir denken, der Nazismus war ein Konzentrat des
Kapitalismus; um ihn zu "vermeiden", wäre nicht weniger als eine
Revolution notwendig gewesen, und die Menschheit wird sich zukünftige
blutige Diktaturen nur ersparen, wenn sie die kapitalistische Gesellschaft
hinter sich läßt.
Ist
es nur eine Frage des Vokabulars? Gewiß nicht. Wenn wir, um den
Gebrauch des Wortes Kapitalismus zu vermeiden, sagen würden:
Die bestehende Gesellschaft, das zwanzigste Jahrhundert, die moderne
Welt, ... haben Auschwitz gemacht, würde sich die Inquisition genau
so entfesseln. Sie akzeptiert nicht, die Nazi-Schreckensherrschaft auf
ihren Ursprung zurückzuführen: eine auf dem Kapitalismus basierende
globale Ordnung/Unordnung. Zu viele Leute haben ein starkes Interesse
daran, daß sich der Nazismus vor allem durch seinen Haß
auf das andere erklärt, durch seinen Antisemitismus, seine Ausgrenzung,
kurz, durch die Nazis. Infolgedessen wollen sie heute, in Frankreich,
daß Le Pen nicht dadurch bekämpft wird, daß man die
Gesellschaftsordnung bekämpft, die ihn hervorbringt, sondern indem
man eben diese Gesellschaftsordnung gegen ihn verteidigt, also die Linke
unterstützt und sogar die Mitte und gemäßigt rechte
Politiker, solange sie gegen die extreme Rechte sind.
Diejenigen,
die den Begriff "Kapitalismus" seiner Bedeutung entleeren, sind die
Gleichen, die "die Revolution" als einen Slogan behandeln. Uns unterscheidet
von den Denunzianten, daß sie die Gesellschaft letztendlich gar
nicht so schlecht finden. Sie denken, daß man heute "freier" ist
als 1950, die Anti-Terror-Einheiten "trotz allem" besser sind als die
Armee und die Jugend auf dem Berufsgymnasium doch besser aufgehoben
ist als im Bergwerk oder auf der Straße. Genau da liegt unser
Verbrechen: Wir weigern uns, Vergleiche zu ziehen.
"Die
Konzentrationslager sind die Hölle einer Welt, deren Paradies der
Supermarkt ist." (La Banquise, Nr. 1, 1983) Es ist klar, daß
es für uns weder Paradies noch Hölle gibt. Eine schreckliche
Wirklichkeit hat ihr infernalisches Abbild geschaffen. Die Schrecken
des modernen Konsums erzeugen ihre paradiesischen Bilder. In beiden
Fällen behandelte der Satz in La Banquise sie als Abbilder,
und weder verglich noch negierte er die Realitäten, die ihnen zu
Grunde liegen.
"Der
Natur nach gibt es keinen Unterschied zwischen dem 'normalen' Regime
der Ausbeutung des Menschen und dem der Lager. Das Lager ist einfach
das unverstellte Bild der mehr oder weniger verschleierten Hölle,
in der noch so viele Menschen weltweit leben." (Robert Antelme, Pauvre-Prolétaire-Déporté,
1948) Gewiß, die Endlösung ist in diesem Satz nicht explizit
enthalten, denn Antelme spricht von Konzentrations- und nicht von Vernichtungs-Lagern.
Aber wer würde Antelme den Prozeß machen wegen der Absicht,
die Grauenhaftigkeit der Lager bagatellisieren zu wollen? (Er war kein
Ultra-Linker, eher ein radikaler Humanist, der 1946 der KPF beitrat
und vier Jahre später ausgeschlossen wurde.) Unser einziger Fehler
ist die Überlegung, daß die Vernichtung die Zuspitzung der
Konzentration ist.
Die
Konzentrationslager sind die Hölle einer Welt, deren Paradies der
Supermarkt ist. Warum ist dieser Satz unzulässig? Warum vergißt
der Linke alles, was wir gerade gesagt haben, sogar was er vielleicht
bei Antelme gelesen haben mag, und liest daraus eine schändliche
Gleichsetzung der Gaskammer mit einer Warteschlange im Supermarkt? Weil
er, ohne für den Supermarkt zu schwärmen, darin nichts von
Grund auf Schreckliches sieht. Ebenso wie er einen demokratischen Staat
und keine Niedriglöhne möchte, träumt er von einer großen
menschengerechten Welt, selbstverwaltet, stadtteilbezogen organisiert
und mit dem Fahrrad erreichbar, wo weniger Barbie-Puppen verkauft werden
und mehr pädagogisch wertvolle CD-ROMs, wo in recycelter Verpakung
Kaffee angeboten wird, für den dem bolivianischen Erzeuger sein
"gerechter" Preis gezahlt wird. Für den, der keine Kritik des Supermarktes
durchführt als Handelskonzentration und Ort der Beraubung in allen
ihren Formen, scheint die Formel aus La Banquise bestenfalls
ein abgedrehtes Paradoxon zu sein, im schlimmsten Fall eine Infamie.
Für
uns wie für unsere Ankläger bestimmt das Verständnis
des Supermarktes (und folglich der Gesellschaft) das Verständnis
der Lager und nicht umgekehrt. Es wäre also sinnlos zu hoffen,
wir könnten die Ankläger entwaffnen, indem wir uns in Bezug
auf Auschwitz verteidigen; es geht vielmehr darum, sie in Bezug auf
den Supermarkt anzugreifen. Bei dieser Affäre ging es niemals um
die Analyse des Nazismus oder des Völkermords, sondern um eine
Art, hier und jetzt gegenüber dieser Gesellschaft Stellung zu beziehen.
Im Grunde hat sich nichts geändert, seit 1968 ein republikanischer
Polizist einem von uns vorwarf: "Mit eurem Quatsch werdet ihr uns den
Faschismus bringen! " Dreissig Jahre später, wegen Auschwitz oder
nicht, kommt die gleiche Erpressung.
Die
Anschuldigungen gegen uns beruhen auf dem Skandal. Aber die Realität
erweist sich Tag für Tag als skandalös bis zur Karikatur.
Es ist die Wirtschaft, nicht La Banquise, die plante, in Oswiecim/Auschwitz
einen Supermarkt zu errichten. Skandal ist der plötzliche Schock
für eine Welt, die den Anblick ihres eigenen Spiegelbilds nicht
erträgt. Die Ware ist das eigentlich Erniedrigende, sagt ein Text,
der 1998 sein 150. Jubiläum feierte.
Unsere
Zivilisation ist zu reich an Abscheulichkeiten, als daß ihr das
intellektuelle oder moralische Recht zugestanden werden könnte,
die Hierarchie ihrer eigenen Untaten festzulegen und zu entscheiden,
welche Verbrechen das Gesetz autorisiert und welche es ahndet. Diese
Welt erklärt sich nicht über ihre Extreme, sondern über
das Alltägliche. Der Gulag liefert nicht den theoretischen Schlüssel
für die UdSSR und die Vernichtungslager nicht den für den
Hitlerismus. Krisen, Kriege und Massaker sind Ausdruck für die
Krämpfe, die die Gesellschaft schütteln, erhellen aber nicht
die Logik, die zu ihnen führt. Trotzdem wirft die Demokratie dem
Nazismus vor allem den geplanten Mord vor, und die Revisionisten
bleiben dabei, das sei nicht geplant gewesen. Was hätten wir in
dieser Debatte im Jahr 2000 mehr zu sagen als 1980 oder 1983? Uns empört
das tägliche Verbrechen, das diese Gesellschaft darstellt, in der
wir leben, und von diesem Verbrechen ausgehend kann man sie begreifen.
In
den 70ern ersetzten die "neuen Philosophen" in Frankreich und die Bewunderer
Solschenizyns Auschwitz durch den Archipel Gulag. Zwanzig oder dreißig
Jahre später ziehen einige Linke einen Minikrieg auf gegen eine
revolutionäre Kritik, in der sie die Förderung des Neonazismus
erkennen wollen. Der demokratische Befehl hat sich nicht geändert:
Wenn ihr den Totalitarismus nicht als öffentlichen Feind Nr. 1
anerkennt, seid ihr seine Komplizen. Wer darauf besteht, von Kapitalismus
zu reden, wenn allgemein dazu aufgefordert wird, den Blick auf die "wahren"
Prioritäten zu richten, als da seien Diktatur, Vormachtstellung,
Rassismus, Intoleranz - verliert jegliche Anerkennung und wird für
die Hetzjagd freigegeben.
Diese
kleine Kampagne hatte zumindest den Verdienst, daran zu erinnern, daß
nicht alles vereinnahmt werden kann und daß die Gesellschaft des
Spektakels Kritik manchmal schlecht verdaut, wenn sie ein bißchen
radikaler ist. Gewiß würde sich jedes Individuum oder jede
Gruppe mit revolutionären Absichten wünschen, wenn man sie
in die Öffentlichkeit zerrt, daß man sich dort wegen dem,
was sie ist, mit ihr befaßt. Aber die Betroffenen wissen, daß
die Fabrikation von Monstern nicht erst zum Ende des 20. Jahrhunderts
erfunden wurde. Thiers massakrierte die Aufständischen von 1871
nicht für ihr demokratisches Kommune-Programm, sondern als Mörder
oder Brandstifter. Die III. Republik in Frankreich warf die Anarchisten
nicht in ihrer Eigenschaft als Individualisten oder Kollektivisten ins
Gefängnis, sondern als Bombenleger. Lange Zeit haben die "anerkannten"
Zeitungen Marx als einen Agenten Bismarcks oder Lenin als einen deutschen
Spion demaskiert. La Banquise versuchte zu erklären, warum
es keine Monster gibt. Es wäre lächerlich, wenn wir zu beweisen
versuchten, daß wir keine solchen Monster sind, indem wir beweisen,
daß wir keine Negationisten sind.
Erst
der Stalinismus machte aus der Verleumdung eine Gewohnheit für
einige und eine Zwangsvorstellung für viele. Einige Jahrzehnte
später können die Wyschinskijs aus Aubervillier [Aubervillier:
Vorstadt von Paris, traditionell von der KPF regiert; Wyschinskij: Chefankläger
bei stalinistischen Säuberungsprozessen in den 30ern] immer noch
lästig werden, weil sie gesunden Menschenverstand mit Moral verknüpfen,
und sie tun das mit der tugendhaften Selbstgerechtigkeit derer, die
stets unter dem Banner des Guten kämpfen. Mit dem populären
Umfeld vertraut vergessen sie niemals, sich als Söhne des Volkes
oder als Widerstandskämpfer zu geben. Sie haben eine Familie,
sie arbeiten und sie schreiben und das sind gewiß keine
pornographischen Romane. Sie haben auch ein Publikum, und Buch um Buch
beruhigen sie es. Sie sind Freunde der guten Sache und modern genug,
um die altmodische Militanz zu meiden, sie sind nicht sektiererisch,
sie frühstücken mit einem Gewerkschaftsführer und lassen
ihn dann stehen und marschieren mit den Trotzkisten. Während ihrer
gesamten stalinistischen Vergangenheit waren sie Dissidenten und bei
Mao äußerst kritische Reisende. Sie verkörpern den rebellischen
Geist der 68er, der zum Realismus gefunden und keine Angst hat, einen
Stimmzettel in die Wahlurne zu werfen: Der Selbstgerechte respektiert,
was es zu respektieren gilt. Ihre Bücher sind keine Bücher,
sondern gute Taten. Wie sollten sie unrecht haben? Sie haben von vornherein
recht: Was vom Guten angeprangert wird, das kann nur das Böse sein.
Doch
nicht jedermann trägt das Zeichen des Guten: Wer die Demokratie
kritisiert, verliert die Anerkennung. Wenn es gegen uns geht, reicht
es, wenn die Denunzianten ihre Entrüstung äußern. Die
Lektüre von La Banquise ruft bei unseren Anklägern
nicht Meinungsverschiedenheiten hervor, sondern Übelkeit. Gibt
es ein besseres Argument als das Leiden? Solch starker Schmerz und Zorn
können nicht lügen. Die emotionale Erpressung macht den Gegner
zum Monster. Die netten Jungs gegen die Dreckskerle, mehr steckt da
nicht dahinter.
Jeder
politische Prozeß ist ein Prozeß mit bestimmten Absichten.
Aus diesem Grund würde es nichts bringen, die Anklage gegen ihre
Urheber umzukehren. Gewiß, die Demokratien ließen den Judenmord
geschehen. Natürlich wurden die höheren Ränge des französischen
Faschismus nicht mit "Bordigisten" besetzt, sondern eher mit Führern,
die aus den ex-sozialistischen und ex-stalinistischen Reihen kamen.
Gewiß, diejenigen, die uns als angeblich versteckte Antisemiten
angreifen, stützen eine PCF, deren ehemalige und gegenwärtige
russische Genossen sich fließend einer heftigen antijüdischen
Rhetorik bedienen, der gegenüber die Phrasen Le Pens noch zurückhaltend
erscheinen. Gewiß, die Ex-Gaullisten, die sich auf uns stürzen,
priesen dreißig Jahre lang eine Dritte-Welt-Politik, die dem Nationalbolschewismus
in nichts nachstand und schüttelten mehr als eine Foltererhand.
Gewiß juckt uns der Wunsch, allen diesen Aktivisten, Journalisten
und Akademikern, die eine Linke unterstützen, die sich seit mehr
als einem Jahrhundert an das Vaterland anschließt, zuzurufen:
Der nationale Sozialismus ist eure Politik. Das alles
ist wahr, aber sich damit aufzuhalten, würde einmal mehr
dem Gegner das Kompliment zurückgeben - "Der Faschist, das seid
ihr!" - wo es doch gerade darum geht, mit jeder Stigmatisierung zu brechen.
Im Gegensatz zu unseren Feinden haben wir keinen Feind. Wir sind nicht
gegen das Lohnverhältnis, weil der Boss ein Nummernkonto in der
Schweiz hat. Es bedeutet wenig, ob diejenigen, die uns als Feinde behandeln,
schmutzige Hände haben oder solche, die weiß sind wie der
Schnee Sibiriens. Lassen wir sie doch ihre Ehrbarkeit steigern, die
ihnen Lebensinhalt und Broterwerb ist.
Jede
Politik muß nach ihren Methoden beurteilt werden. Während
sich die Gesellschaftskritik mit der Lebensweise oder den Institutionen
befaßt, tut die Politik der Denunziation das genaue Gegenteil:
verbissen führt sie den Kampf gegen Individuen, sanftmütig
dagegen ist sie gegenüber gesellschaftlichen Zusammenhängen.
Sie ruft zur ethischen Säuberung auf, zur Reinigung, zur Ausrottung
aller Bösewichte. Sie liefert selbst Namen und verlangt, daß
man ihr welche liefere. Sie geht davon aus, daß die Gesellschaft
gut wäre ohne die Profiteure, die den Reichtum für sich beanspruchen,
ohne die Nazis, ohne Pädophile und mehr noch ohne die, die sich
weigern, das falsche Ziel zu wählen, nämlich uns. An die Stelle
einer historischen Sichtweise, wo sich gesellschaftliche Kräfte
gegenüberstehen, tritt eine Gegenüberstellung von herrschender
Figur und unterdrückten Personen, von Henkern und Opfern, deren
Ursprung man nicht wahrnimmt, außer in der Ideologie, im Haß,
im Willen auszuschließen, zu herrschen - ein Wille, der eben so
gut den Finanzhai, den Nazi, den Vergewaltiger, den Negationisten und
gewiß auch seinen ultralinken Komplizen antreibt. Wichtig ist,
sich auf der Seite des Guten zu positionieren und das Volk mit geheimen
Insider-Informationen zu füttern.
Revolutionäre
haben immer schon versucht zu sagen: So stehen die Dinge, und so könnten
sie verändert werden. Die Wahrheit ist niemals ein Geheimnis, es
geht darum zu verstehen, nicht zu demaskieren. Sie nimmt dem Experten
sein Privileg. Sonst hätten nur die Physiker das Recht, über
Atomkraft zu reden oder die Biologen über Gentechnik, und der einfache
Mensch wäre auf ewig gezwungen, die Sichtweisen der Spezialisten
gegeneinander abzuwägen, die ihm immer um eine Entdekung voraus
sind. Ein Kriterium einer revolutionären Kritik ist das
Voraussetzen von Gleichheit - nicht weil sie davon ausgeht, daß
der erstbeste in der Lage ist, in sechs Monaten genau so viel zu wissen
wie ein Nobelpreisträger, sondern weil sie andere Fragen stellt.
Die Gesellschaftskritik gründet auf Gegebenheiten, die - ohne evident
zu sein - fundamental und für alle begreifbar sind. Das "Geheimnis"
besteht darin, daß es kein Geheimnis gibt.
Der
schlimmste Experte ist der für das Verdeckte. "Glaubt das Unmögliche!"
Die Verschwörungstheorie geht davon aus, daß sich hinter
allem, was gesagt wird, das Gegenteil verbirgt. Sie nimmt eine manipulierte
Wahrheit an und also Manipulierer. Nicht in der Lage zu verstehen, was
die Grundlage unserer Gesellschaft darstellt - arbeiten, kaufen, verkaufen,
dorthin gehen, wohin uns der Gesetzesvertreter schickt - gräbt
sie das Dokument aus, das die Raffgier des Bosses, die Korruption des
Bürgermeisters, den Justizirrtum, die bewegte Vergangenheit des
Politikers, das unerhörte Geschlechtsleben des Milliardärs,
die Intrigen, die Einflußnahme, die Verflechtung, die schwarze
Kasse usw. beweisen soll. Ob sie die "wahren" Herren der Welt aufdeckt
oder die Mafia, das Gold Moskaus, die Trilaterale, die Moon-Sekte oder
Opus Dei, Big & Small Brothers, Mossadagenten oder Stasi-Maulwürfe
- diese Sichtweise bringt zerstreute Fakten miteinander in Zusammenhang.
Genau diese armselige Sichtweise ist es, die im jüngsten inquisitorischen
Delirium den Gipfel der Karikatur erreichte. Wenn das Hirn an okkulte
Mächte glaubt, schließt es sich kurz.
Seit
zweihundert Jahren gibt es eine verbreitete reaktionäre Position
(u.a. im Faschismus), die Gesellschaft als verfault, doch in ihren Fundamenten
gesund zu beschreiben, das gute Korn durch Ausreißen des verdorbenen
finden zu wollen und zu diesem Zweck die Einflüsse aufzudecken,
die umso unheilvoller sind, je verdeckter sie sind. Die Politik als
Denunziation setzt eine aufgeklärte Elite voraus, die fähig
ist, dem gewöhnlichen irregeleiteten Sterblichen diejenigen aufzuzeigen,
die ihn verderben. Was ist der Unterschied zwischen "Das Parlament in
den Händen der Banken" und "Die Ultra-Linke spielt das Spiel des
Neonazismus", außer daß die Informationsinflation heute
Henri Coston für das CNRS (Centre national de la recherche scientifique,
Nationales Forschungszentrum) arbeiten läßt.
Der
Unterschied zwischen uns und denen, die uns anklagen: Wir führen
keine Akten über sie.
Ehemalige
Mitglieder von La Banquise: J.-P. C., G. D., J. H., D. M.
"Das
Proletariat fragt nicht, was die Bourgeois bloß wollen,
sondern was sie müssen."
(Karl
Marx, Deutsche-Brüsseler Zeitung, 12. September 1847, MEW
4, S. 193)
"Es
gibt nichts, das nicht zu verstehen ist."
Isidore
Ducasse, Poésies, 1870
"Das
sagt das, was es sagt, buchstäblich und in jeder Hinsicht."
Rimbaud
an seine durch die Lektüre von 'Une saison en Enfer' bestürzte
Mutter
"Ich
betrachtete ihn mit gewissem Interesse, denn zum ersten mal hatte ich
einen Menschen getroffen, dessen Beruf es war, Lügen zu verbreiten
- wenn man von Journalisten absieht."
Orwell,
Mein Katalonien, 1938
"Deutschland
hat die Krise, die es zur Welt der Konzentrationslager führte,
mit der seiner Geschichte eigenen Originalität interpretiert. Aber
die Existenz und der Mechanismus dieser Krise sind auf ökonomische
und gesellschaftliche Grundlagen des Kapitalismus' und des Imperialismus'
zurückzuführen."
D.
Rousset, L'Univers concentrationnaire, 1946